Mit zehn Jahren kam ich von Syrien nach Deutschland. Ich hatte Freude an der neuen Sprache und lernte schnell. In der Adventszeit erzählte die Lehrerin über Weihnachten, dass da Jesus, Gottes Sohn, als Mensch zur Welt gekommen sei. Ich fühlte mich diesem Jesuskind nahe, denn es war ein Flüchtlingskind, genau wie ich. Die Lehrerin sprach über die Nächstenliebe, das sei die Kernbotschaft des Christentums. Es sei eine hohe Anforderung an uns Menschen, den Nächsten zu lieben, aber wir könnten es in kleinen Schritten üben: freundlich und hilfsbereit sein, ihn mitspielen lassen, ihm die Hausaufgaben zukommen lassen, wenn er krank ist, einem Schwächeren etwas erklären und vielleicht sich auch mal in ihn hineinversetzen und von seiner Warte aus die Welt betrachten. Sie gab uns als Hausaufgabe, dass wir in der nächsten Stunde etwa zu Weihnachten berichten sollten. Ich erzählte von Frau Haager, der Bäckersfrau in dem Dorf. Sie war immer freundlich zu mir und interessierte sich für mich. Wie ich heiße, ob ich Geschwister habe, welches mein Lieblingsfach sei … mit der Zeit hatte ich das Gefühl, dass sie sich richtig freute, wenn ich kam.
Ihre Nougatkringel schmeckten mir wunderbar und immer wenn ich zum Einkaufen kam, steckte sie mir einen Kringel in einer extra Tüte zu. „Für dich, Esma“, sagte sie dann. Bei ihr fühlte ich mich wohl und frei und die Anspannung wich. Sie sagte mir oft etwas Liebes: wie schön meine Augenfarbe sei, dass ich schon so toll Deutsch spreche, dass ich eine gute große Schwester für meine Geschwister sei … Später gab mir eine ihrer Töchter Nachhilfeunterricht und meine Mutter machte viele Jahre später ihre erste Reise mit Frau Haager. Sie war nicht nur Bäckersfrau, sondern auch Vorsitzende des LandFrauenvereins und lud meine Mutter zu einer LandFrauenreise an den Bodensee ein. Meine Mutter spricht heute noch davon, wie es sie gerührt hat, dass die Frauen sie am Abend einluden, ein Lied aus ihrer Heimat zu singen …
ESMA, in der Ausbildung zur Krankenschwester